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IREBS Standpunkt Nr. 59

Warum manchmal ein kleines bisschen Schizophrenie hilfreich ist

Neulich musste ich etwas länger auf einen Zug warten und tat das, was in solchen Situationen unterdessen gefühlte 98% der unter 80-Jährigen tun: ich zückte mein Smartphone und schaute nach, was es denn Neues im Netz gab. Nun gehöre ich der Teilmenge der über 40-Jährigen an, ich öffnete also nicht Snapchat und auch nicht Instagram, nicht einmal Facebook, sondern schön brav die als Business Network verkleidete Plattform LinkedIn. Dank hochwertiger Algorithmen sorgt diese Plattform dafür, dass von den zehn Nachrichten, die man so beim Scrollen überfliegt, mindestens eine dabei ist, die interessant klingt. So war es auch dieses Mal: „Top 50 Flagship Stores in the World“. Da wir in wenigen Wochen unseren Retail Asset Management Studiengang in Hamburg starten werden, dachte ich, das passt ja prima: Dann kann ich gleich ein tolles Fallbeispiel in meine Eröffnungsvorlesung einbauen. Die Liste las sich in der Tat aufregend: Apple, Primark, Lego, Prada, Disney etc., und in Gedanken flog der Leser von New York nach Paris und Shanghai auf Einkaufstour. Es gab auch ein paar überraschende Vertreter auf der Liste: den Seifenladen Lush hätte ich nie erwartet, und ich muss zugeben, dass ich mit Acne Studios zunächst völlig falsche Assoziationen hatte.

Doch was mich jenseits dieser einzelnen Fallstudien wirklich faszinierte, war die regionale Verteilung dieser angeblich 50 besten Flagship Stores der Welt: 15 Läden waren in London, 13 waren in New York, dann kam eine ganze Weile nichts, sechs waren in Tokyo, drei in Paris, zwei in Berlin. Die folgende Tabelle zeigt die Verteilung der 50 angeblich weltbesten Flagship Stores.

Auf den ersten Blick ergibt das natürlich eine Menge Sinn: Oben stehen die Weltstädte London und New York, Tokio und Paris. Direkt danach folgen Städte mit großer wirtschaftlicher Bedeutung Singapur und Shanghai und zwei wichtige europäische Hauptstäte mit großer politischer und kultureller Bedeutung: Berlin und Rom. Natürlich befinden sich die Einzelhandels-Flaggschiffe eines internationalen Unternehmens in den Weltstädten. Es sind ja letztlich die Visitenkarten der Unternehmen und die legen große Unternehmen eher in New York aus als in Bottrop. Die Ballung ist gleichwohl bemerkenswert: Ist London fünfmal attraktiver für solche Aushängeschilder des Handels als Paris? Was ist mit Läden in Moskau, Beijing, Istanbul? Nun, die Liste spiegelt natürlich keine TÜV-geeichte Liste, sondern eine persönliche Neigung einer Autorin, die für ein angelsächsisches Beratungsunternehmen schreibt.

Nach wenigen Klicks landete ich auf der Liste der angeblich 50 schönsten Konzeptläden der Welt. Auch interessant, und auch hier zeigte sich ein ähnliches regionales Bild: London, New York, Paris – und acht der Top-50 Konzeptläden befanden sich gemäß dieser Liste in Berlin. Keiner in Hamburg, keiner in München, keiner in Frankfurt, keiner in Bottrop. Ich dachte gleich an eine weitere internationale Rangfolge, über die ich im letzten Jahr gestolpert war, bei der Berlin ebenfalls als einzige deutsche Stadt geführt wurde. Das war die Liste von erfolgreichen Start-up-Regionen[1]. Natürlich ist diese Zusammenstellung von internationalen Rangfolgen willkürlich, doch zwei Schlüsse scheinen mir gleichwohl berechtigt:

1) Die Welt schaut (wieder) auf Berlin. Berlin ist wirtschaftlich bei weitem nicht so kraftstrotzend wie München, Frankfurt oder Hamburg; doch Berlin hat die Strukturanpassung der 1990er Jahre vor zehn Jahren abgeschüttelt und gilt nicht nur als politisches Zentrum, sondern als Magnet für Kreative. Berlin entwächst allmählich dem „arm“ in Klaus Wowereits berühmter Beschreibung der Stadt. Doch dann bleibt eben das „sexy“, und darauf setzen Unternehmen, Kreative und Investoren zu Recht. Natürlich genügend solche Listen nicht wissenschaftlichen Standards; die meisten wollen das auch gar nicht. Immobilienmarktprofessionals sollten sie dennoch nicht als reine Unterhaltungsliteratur abtun, und das führt mich zur nächsten Schlussfolgerung.

2) Menschen lieben Listen und Rangfolgen. Sie verankern sich so angenehm im Gehirn, viel leichter als lang ausformulierte Besinnungsaufsätze. Das Problem ist natürlich, dass dadurch immer Komplexität reduziert werden muss und dass dadurch das Denken blockiert wird. Wieso schafften es acht Konzeptläden in Berlin auf die Liste, aber kein einziger aus einer anderen deutschen Stadt? Übrigens auch keiner aus Skandi-navien oder Belgien. Das fällt zunächst gar nicht auf, der Leser merkt sich aber, dass es in Berlin etwas zu sehen gibt. Dadurch entstehen Pfadabhängigkeiten bei Journalisten und Investoren. Wer es erst einmal auf die eine Liste geschafft hat, ist auf dem Radar für andere Listen und Reisepläne. Und genau daher dürfen Immobilienmarktakteure diese Listen nicht ignorieren, weil andere Leser sie eben (wahrscheinlich) nicht ignorieren. Tatsächlich sind diese Listen nicht einmal im eigentlichen Sinne falsch, denn sie spiegeln Stimmungen und Meinungen, und dass solche gefühlten Daten wirtschaftliche Bedeutung haben, wissen wir spätestens seit J.M. Keynes.

Leser von internationalen Städte-Rangfolgen sollten also ein kleines bisschen zwiegespalten sein: Auf der einen Seite sollten sie die Grenzen der Rankings kennen, am besten sogar in die Fußnote gründeln, um die Methodik und Einschränkungen bewerten zu können. Auf der anderen Seite müssen sie vermuten, dass auch unzureichende Rangfolgen, wenn sie häufig genug zitiert werden, eine reale Wirkung entfalten können. Denn für gelungene Immobilientransaktionen reicht es, wenn hinreichend viele Akteure die Qualität dieser Rankings nicht infrage stellen. Und daher schaue auch ich regelmäßig in den sozialen Netzen auf solche Listen; aber eben eher auf einem Bahnsteig als am Schreibtisch.


[1] Vgl. Compass (2015). In den Fußnoten jener Studie erfährt man, dass chinesische, japanische, koreanische und taiwanesische Städte außen vor blieben und dass die Auswahl der Kriterien einen Größenbias aufweist (siehe:https://blog.compass.co/the-2015-global-startup-ecosystem-ranking-is-live/). München oder Hamburg werden es aber nun schwer haben, diese internationale Referenzstudie zu entwerten.


Prof. Dr. Tobias Just (FRICS)
Prof. Dr. Tobias Just (FRICS) ist Wissenschaftlicher Leiter und Geschäftsführer der IREBS Immobilienakademie und Lehrstuhlinhaber für Immobilienwirtschaft an der Universität Regensburg.

IREBS Immobilienakademie GmbH
Kloster Eberbach
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