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IREBS Standpunkt Nr. 65

Pythia, Schwäne und der stille Erfolg der Füchse

Wirtschaftlich relevante Entscheidungen erfordern implizite oder explizite Annahmen hinsichtlich künftiger Entwicklungen. Das gilt natürlich für den Immobilien- oder Autokauf, denn hier verteilen sich die Nutzungen des Gutes über viele Perioden. Es gilt aber selbst für deutlich kürzer genutzte Konsumgüter mit deutlich geringerer wirtschaftlicher Relevanz, denn letztlich ist die Alternative zu jedem Konsum der Konsumverzicht und damit die Ersparnisbildung. Diese lohnt sich jedoch nur, wenn uns in Zukunft etwas Gutes einfällt, was wir mit dieser Ersparnis anfangen. Egal wie wir uns entscheiden, wir haben implizit eine Annahme hinsichtlich einer Vielzahl von Parametern getroffen und damit Prognosen erstellt. Wenn wir uns ein Eis kaufen, sind mögliche Fehler in der Annahmensetzung wohl zu vernachlässigen, es sei denn, es handelt sich um Speiseeis aus lokaler Produktion eines Kleinhändlers in den Straßen Kalkuttas. Bei teuren, langlebigen Gütern spielt eine richtige Kalibrierung der Parameter jedoch eine große Rolle. Dies betrifft natürlich insbesondere die Setzung für jene Parameter, die die Zukunft betreffen, denn diese sind per Definition unsicher. Wenn es gelingt, diese Unsicherheit zu reduzieren, können wir bessere Entscheidungen treffen. Daher haben sich Menschen schon immer für Prognosen begeistert.

Eines der berühmtesten Prognosewerkzeuge der Geschichte war die Pythia im Orakel von Delphi. Die Pythia war eine junge Frau, die über einer sauerstoffraubenden Spalte in Trance geriet und im Zuge davon Aussagen machte, die nach gängiger Interpretation von Priestern zu Weissagungen, also Prognosen, gedeutet wurden. In der heutigen Welt der Kapitalanlage hat sich dieses Vorgehen nicht durchsetzen können, selbst wenn wir den Analogiebogen arg strapazieren und zulassen, dass die Priester heute Chief Economist, Chief Investment Officer oder Professor heißen könnten. Nein, die Pythia-Prognosen erfüllen selbst einfachste Anforderungen an wissenschaftliche Prognosen nicht. Sie fußen nicht auf einem methodischen und theoretischen Konzept, sie sind weder klar noch transparent und folglich auch nicht wiederholbar. Es darf aber bei Prognosen eben keinen Unterschied machen, ob Pythia, Katja oder Karl-Heinz über der Spalte die Gase einatmen. Daher haben seit knapp hundert Jahren modellbasierte, ökonometriebelastete Prognosen die herkömmlichen orakelhaften Prognosen verdrängt.
Doch sind unsere Prognosen heute, also 1600 Jahre, nachdem das Orakel in Delphi außer Betrieb ging, wirklich besser als damals? Liegen Prognostiker nicht auch heute noch regelmäßig mit ihren Prognosen neben den eintretenden Ereignissen? Natürlich tun sie das. Und dies möchte ich zum Anlass nehmen, um mit einem Missverständnis aufzuräumen: Prognostiker kennen nicht die Zukunft, sie können allenfalls aus bekannten Entwicklungen auf mögliche Entwicklungen in der Zukunft schließen. Sie können natürlich nicht die von Nassim Taleb berühmt gemachten Schwarzen Schwäne erkennen, Schwarze-Schwan-Ereignisse sind gerade eben dadurch gekennzeichnet, dass sie extrem selten sind und dass ihr Auftreten nicht erahnt werden kann, weder von Ökonometrikern, noch von Trendforschern und auch nicht von einer Pythia. Es gibt leider sehr viele solcher nicht prognostizierbarer Ereignisse und Entwicklungen, doch daraus zu schlussfolgern, wir sollten gar nicht erst prognostizieren, weil wir es nicht können, ist ebenfalls falsch. Denn wir müssten gleichwohl Entscheidungen treffen, und diese Entscheidungen fußen eben implizit auf einer Prognose. Wir brauchen Prognosen also nicht, um „richtig“ zu liegen, sondern um systematische Fehler zu reduzieren und um unser Denken zu strukturieren. Wissenschaftliche Prognosen sind daher nichts anderes als „Wenn-dann“-Formulierungen, die nach neuestem Kenntnisstand richtig gerechnet wurden. Immobilienprofessionals sollten daher Prognosen immer hinterfragen, und ergründen, warum Prognostiker X zu einem anderen Ergebnis kam als Prognostikerin Y. Danach sollte man über Faktoren nachdenken, die außerhalb der Modelle der Prognostiker liegen – denn davon kann es eine Menge geben. Für diese Folgeüberlegungen sind zwei Punkte entscheidend: Erstens, weil alle zukünftigen Entwicklungen eben unsicher sind, ist das Denken in Wahrscheinlichkeiten zentral. Eigentlich müsste man vor jede Prognose das Wörtchen „wahrscheinlich“ schreiben; noch besser wäre es, wenn geschätzte Eintrittswahrscheinlichkeiten genannt würden. Das sichert nicht wirklich Sendezeit bei „hart aber fair“, wäre aber eigentlich sowohl hart als auch fair. Zweitens, die stetige Anpassung einer Prognose zeugt nicht von schlechter, sondern von guter Arbeit des Prognostikers, denn die Welt bleibt ja nicht stehen: Jede Minute werden 600 Seiten auf Wikipedia editiert, knapp 460.000 Tweets abgesetzt – einige davon bestimmen das Wohl und Wehe der größten Volkswirtschaft der Erde. Eine gute Prognose ist also keine starre Prognose. Um im Bild der Schwäne zu bleiben: Es gibt nicht nur blütenweiße und rabenschwarze Schwäne, es gibt auch anthrazitfarbene und mausgraue. Mit jeder zusätzlichen Information können wir die Farbe neu bestimmen. Daher findet Philipp Tetlock in seinen Analysen zur Qualität von Prognosen, dass die Prognosefehler insbesondere jene Analysten, die sehr viele Informationen aus sehr unterschiedlichen Quellen berücksichtigen und deren Weltbild nicht auf einer einzigen Idee basiert, bessere Prognosen abgeben als Analysten, die monokausal und starr argumentieren. Erstere bezeichnet Tetlock als Füchse, letztere als Igel (in Anlehnung an ein Essay von Isaiah Berlin zu antiken Denkschulen). Ein entscheidender Vorteil der Füchse in den Untersuchungen Tetlocks war nicht, dass sie von Anfang an richtiger lagen, sondern dass sie im Prozess der Untersuchung durch fortlaufendes Feintuning zu einer besseren Prognose gelangten. Sie waren bereit, einen weißen Schwan auch mal nach erneutem Denken grau einzufärben. Igel hingegen unterwerfen ihr Denken einer einzigen Idee, für sie bleibt ein weißer Schwan ein weißer Schwan. Neue Informationen werden nicht bewertet, sondern in die herrschende Idee integriert. Für die wohl beliebteste Immobilienfrage von heute: „Haben wir eine Blase oder nicht?“ bedeutet dies, dass sich Analysten nicht hektisch auf eine Seite schlagen sollten und dann dort einbunkern dürfen, sondern sie sollten wie Füchse stetig die Daten von unterschiedlichen Seiten analysieren und ihre Aussagen – manchmal nur marginal – anpassen.
Die Botschaften sind also: Erstens ist es müßig, über Fehlprognosen zu lamentieren. Wir können allenfalls über Fehlmodelle jammern. Zweitens, Prognosen können dementsprechend nur systematische Fehler reduzieren. Wenn die unsystematischen Fehler aber die Welt bestimmen, ist dies eben nicht immer befriedigend. Die Alternative wäre aber, neben unsystematischen Fehlern auch systematische Fehler systematisch zuzulassen. Drittens ist das Denken in Szenarien sehr wichtig und viertens sollten diese Szenarien wie im Bild der Füchse und Igel immer wieder von mehreren Seiten untersucht und herausgefordert werden.
Tja, und sind unsere modellgetriebenen Prognosen nun also wenigstens treffgenauer als jene der Pythia? Das könnte davon abhängen, wer die Ergebnisse interpretiert. Je länger ich über das Orakel von Delphi nachdenke, umso wahrscheinlicher erachte ich es, dass der analytische Kern nicht die in Trance geratene junge Frau war, sondern die Priester. Wahrscheinlich waren sie eine Art antiker Thinktank. Wenn sie wie Füchse gearbeitet haben, offen waren und ihr Denken angepasst haben, konnte die Pythia sagen, was sie wollte, die Interpretation der Priester wurde durch alle anderen Informationen bestimmt. Dies könnte auch erklären, warum sich das Orakel 900 Jahre am Prognostikermarkt hat halten können.
Und umgekehrt, wenn Igel heute vor den Computern sitzen, ließe sich der Titel eines höchst amüsanten Films von Grant Heslov aus dem Jahr 2009 adaptieren und man hätte nicht mehr als „Analysten, die auf Daten starren“. Die moderne Ökonometrie gibt es jedenfalls noch keine 100 Jahre …


Literatur
Baedeker Allianz Reiseführer (1989). Griechenland. 5. Auflage. Baedeker.
Taleb, N. (2015). Der Schwarze Schwan. Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse. Albrecht Knaus Verlag
Tetlock, P.E., Gardner, D. (2015). Superforecasting. The art and science of prediction. Crown. NY. [Marvelesker Buchtitel, grandioses Buch!]


Prof. Dr. Tobias Just (FRICS)
Prof. Dr. Tobias Just (FRICS) ist Wissenschaftlicher Leiter und Geschäftsführer der IREBS Immobilienakademie und Lehrstuhlinhaber für Immobilienwirtschaft an der Universität Regensburg.

IREBS Immobilienakademie GmbH
Kloster Eberbach
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